zwar kein stillgelegter BETRIEB, ...

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WienerLinien
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zwar kein stillgelegter BETRIEB, ...

Beitrag von WienerLinien »

... aber trotzdem sehr interessant ist die ...

Das Tarifgebiet II
Unter diesem heute nicht mehr gebräuchlichen Begriff verbargen sich früher zwei der schönsten Straßenbahnlinien Wiens, nämlich die Linien 360 und 317.
Diese beiden Linien hatten seit 1908 einen eigenen Tarif mit einer ungewöhnlichen Fahrscheinvielfalt. Sie wurden zum Unterschied vom innerstädtischen Tarifgebiet I mit Tarifgebiet II bezeichnet.

Linie 360
Die Linie Hieting - Mödling wurde als Dampfstraßenbahnlinie am 27.10.1883 von der Firma Krauss&Comp. in Betrieb genommen, eine Firma, hinter der die Lokomotivfabrik Krauss mit Niederlassungen in München und Linz stand.
Kurz nach Hietzing zweigte bei der Haltestelle "Neue Welt" (heute Dommayergasse) eine Zweiglinie nach Ober St.Veit ab.

Nach der Übernahme der Dampftramway durch die Gemeinde Wien wurde angestrebt, die durchwegs eingleisige Strecke (mit einigen Ausweichen) zweigleisig auszubauen und zu elektrifizieren.
Bis 1914 konnte der Abschnitt Hietzing - Mauer elektrifiziert werden, er erhielt das Liniensignal 60. Die weitere Elektrifizierung wurde durch den 1.Weltkrieg gestoppt, man fuhr weiter mit den Dampftramwayzügen.

Erst am 27.5.1921 konnte zwischen Mauer und Mödling der elektrische Straßenbahnbetrieb mit dem Liniensignal 360 in Betrieb gehen.
Bis Rodaun wurde die Strecke 1922 zweigleisig ausgebaut.
In Perchtoldsdorf wurde die Remise der Dampftramway weiterverwendet, Züge, die nur bis Perchtoldsdorf fuhren, erhielten das Liniensignal 260.
Anfänglich alle 15 Minuten bis Perchtoldsdorf und alle 30 Minuten bis Mödling geführt, besserte sich die Frequenz auf dieser Linie zusehends.
Während sich im Werktagsverkehr ein 10-min-Intervall einbürgerte (durch die Ausweichen nicht mehr verringerbar), so entwickelte sich an schönen Sonntagen ein äußerst starker Ausflugsverkehr.
Die Züge mussten in Zuggruppen fahren, wobei Dreiwagenzüge Auslauf fanden. Bei diesen Zuggruppen trug nur der letzte Zug ein Liniensignal, um den Gegenzügen in den Ausweichen das Ende der Zuggruppe zu signalisieren.
Rekordleistungen wurden zu Pfingsten 1942 gefahren: pro Zuggruppe waren 4 mödlinger, 1 perchtoldsdorfer und 2 rodauner Züge. An den Endpunkten wurde mittels Stoßtriebwagen umgekuppelt, um die Züge schneller abfertigen zu können.

Erwähnt sei auch noch, dass in Mauer aufgrund von örtlichen Gegebenheiten die Fahrgäste links, auf der restlichen Strecke jedoch rechts aussteigen mussten. Es war daher üblich, dass die Fahrgäste (!) kurz vor Mauer die Türen der einen Seite verschlossen und die der anderen Seite aufmachten. So problemlos war damals das Verhältnis Schaffner-Fahrgast.

1963 wurde der Betriebsbahnhof Perchtoldsdorf, Brunnergasse geschlossen. Der Grund war, dass die Linie 60 von Mauer bis Rodaun verlängert wurde bzw. die Linie 360 dementsprechend gekürzt wurde. In Rodaun wurde eine große Schleifenanlage für beide Linien errichtet, die Linie 360 wurde danach die letzten Jahre ihres Darseins vom Betriebsbahnhof Speising aus gestellt.
In der Schleife Rodaun waren immer Ersatz- bzw. Verstärkerbeiwagen abgestellt, die bei Bedarf an- oder abgehängt wurden.
Nachdem die Schleife Rodaun eröffnet war, ging es mit der Linie 360 rapide bergab. Zwischenkurse nach Perchtoldsdorf wurden nicht mehr benötigt, die Linie 260 aufgelassen. Dreiwagenzüge an Sonntagen waren schon selten geworden, Zuggruppen gab es überhaupt keine mehr. Die Linie lebte vom Werktagspuplikum, vom Schüler- und Berufsverkehr.

1966/67 wurde begonnen, die Strecke gleismäßig aufzuarbeiten.
Im Sommer 1967 wurden diese Arbeiten jedoch gestoppt. Der Grund war die Isolationspolitik der Gemeinde Wien, nicht mehr ins "feindliche" Niederösterreich zu fahren. Buslinien wurden an der Stadtgrenze gekappt und so sollte auch die Straßenbahnlinie 360, die ja seit 1963 nur noch auf niederösterreichischem Gebiet war, eingestellt werden. Man suchte einen Grund, und fand, dass das Defizit auf der Linie zu groß sei, obwohl die SchaffnerInnen stolz auf ihre Fahrkartenverkäufe hinwiesen.
Doch es half alles nichts - am 30.11.1967 fuhr der letzte Zug der Linie 360 von Mödling ab, um in den Betriebsbahnhof Speising einzuziehen.

In Mödling gab es Ausschreitungen, der vorletzte Zug der Linie 360 kehrte ohne Beleuchtung nach Speising zurück.

Was blieb vom 360er?

Die Schleifenanlage Rodaun sowie einige Gleisfragmente entlang der Strecke sind heute noch vorhanden, genauso wie einige Hochbauten (ehem. DT-Stationen), die nun private Wohnhäuser sind.

"Ersetzt" wurde der 360er durch den Kraftwagendienst der ÖBB, heute zuckelt alle 20 Minuten ein fast leerer Autobus auf der Strecke, auf der einst alle 10 Minuten an die 500 Personen befördert wurden.

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Endstelle Mauer; der Triebwagen hat einen Dreiecksbügel um den Rundfunk nicht zu stören

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Schleifenanlage Rodaun

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Kreuzung mit der Kaltenleutgebner Bahn (ÖBB) kurz nach Rodaun

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Der Triebwagen passiert die Widerlager der im 2.Weltkrieg begonnenen "Reichsautobahn". Erst in unseren Tagen wurden die Widerlager in die Wiener Außenringautobahn A21 einbezogen.

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Ausweiche Felsenkeller (benannt nach dem dort existent gewesenen, gleichnamigen Gasthaus)

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An der Grenze zu Brunn/Gebirge.

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Endstelle Mödling
Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen

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